Bericht: Kobanê ist frei, aber…
Posted: Februar 1st, 2015 | Author: lobanowskji | Filed under: General | Kommentare deaktiviert für Bericht: Kobanê ist frei, aber…Kobanê ist frei, aber die Unterstützung muss weitergehen
Nachbetrachtung unserer Veranstaltung am 24.Januar
Schöner hätte die Nachbetrachtung unserer, mit kurdischstämmigen Freunden und Freundinnen gemeinsam organisierten Spendenveranstaltung «Winter in Kurdistan» für Geflüchtete in Rojava und Shingal gar nicht ausfallen können. Nur zwei Tage nach der Veranstaltung in der CityKirche Wuppertal-Elberfeld am 24.Januar, gab die YPG die Befreiung der kurdischen Stadt Kobanê bekannt. Seit September 2014 wurde den in immer neuen Wellen angreifenden Milizen des «Islamischen Staates» erbitterter Widerstand geleistet. Zwischenzeitlich hatten selbst Optimisten den Fall der Stadt für unvermeidlich gehalten, noch im Oktober schien die Lage aussichtslos zu sein.
Ein erstes Ergebnis gemeinsamer Arbeit
Der verzweifelte Kampf um Kobanê hatte aufgrund seiner Dramatik international zu einer Solidarisierung mit der kurdischen Bewegung geführt. Nach einer längeren Zeit, in der das gegenseitige Interesse gegen Null tendierte, gingen auch in Deutschland kurdische und deutsche Linke wieder aufeinander zu. Jahrelang oft unhinterfragte Vorurteile gegenüber einer als stalinistisch und nationalistisch verschrieenen kurdischen Bewegung wurden auch von Teilen der antiautoritären Linken nach und nach ausgeräumt. Dazu trugen viele Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem Kampf um Kobanê wesentlich bei, bei denen kurdische Aktivist*innen das Projekt des «demokratischen Konföderalismus» erklärten und für die Revolution in Rojava warben.
Das so_ko_wpt hat versucht, an der Entwicklung einer neuen Solidarität auch in Wuppertal mitzuwirken. So organisierten wir Informationsabende [1, 2], an denen Gästen wie Ayten Kaplan oder Ismail Küpeli Gelegenheit geboten wurde, ihre Sicht der Entwicklungen in der Region (durchaus kontrovers) darzulegen und über die Bedingungen des gesellschaftlichen Experiments in Kurdistan zu sprechen. Mit einer Veranstaltung zum Jahrestag der Ermordung Andrea Wolfs thematisierten wir darüberhinaus historische Verflechtungen und Brüche im Verhältnis zwischen deutscher und kurdischer radikaler Linker. Dabei entstand ein reger Austausch mit Vertreter*innen kurdischer Gruppen.
Die Benefizveranstaltung für die Flüchtlinge in Rojava und Shingal war ein erstes Ergebnis der Zusammenarbeit und ist eine Basis für zukünftige Kooperationen. Sie war ein Akt konkreter Solidarität mit den vor den «IS»-Milizen geflohenen Menschen und mit den autonomen kurdischen Regionen in Rojava. Wir hoffen, dass die Durchführung von «Winter in Kurdistan» ein guter Anfang war — sowohl, was die aktive Unterstützung der Menschen in Kurdistan betrifft, als auch, was ein gemeinsames Engagement in hiesigen Kämpfen und Themenfeldern angeht. Viele Menschen haben die Veranstaltung unterstützt: Das Spektrum der Unterstützer*innen reichte von der Evangelischen CityKirche Elberfeld über parteipolitisch tätige Linke bis zu Aktiven des Autonomen Zentrums. Das stimmt uns optimistisch.
Allen, die zum Erfolg der Spendenveranstaltung beigetragen haben, möchten wir ganz herzlich danken. Dass am Ende ein vierstelliger Betrag an Heyva Sor a Kurdistanê übergeben werden konnte, war nicht zuletzt ihr Verdienst. Wir möchten aber auch darauf hinweisen, dass die Hilfe für Rojava und Shingal mit der kaum wiederholbaren Veranstaltung nicht enden darf.
Hilfe bei Versogung und Wiederaufbau
Gerade jetzt, nach der Befreiung des völlig zerstörten Kobanê und angesichts neuer, gefährlicher Bedrohungen durch syrische Regierungstruppen und den «IS» in Cizîrê, dem größten Kanton Rojavas, darf die Hilfe von außen für die kurdische Selbstverwaltung nicht aufhören, die bislang von EU und dem Nachbarland Türkei noch immer verweigert wird. Das haben alle Referenten bei der Veranstaltung klargemacht. Sowohl Ali Atalan, der für die Föderation Yezidischer Vereine in Deutschland sprach, als auch Vahdettin Kılıç von Heyva Sor a Kurdistanê, schilderten die Not der aus ihren Dörfern Vertriebenen sehr eindringlich und betonten die durch das türkische Wirtschaftsembargo zusätzlich erschwerten Bedingungen bei der Versorgung der Menschen.
Gleichzeitig geht in Rojava das 2011 begonnene Experiment einer basisdemokratisch strukturierten Gesellschaft durch den erfolgreichen Kampf um Kobanê gestärkt weiter. Der zur Veranstaltung angereiste Vertreter der PYD, Şervan Hasan (zuständig für den Kontakt nach Europa) berichtete zunächst von den Anfängen der gesellschaftlichen Umwälzung und schilderte die Motivlage der Kurd*innen, im sich 2011 abzeichnenden innersyrischen Krieg zwischen religiösen Fanatikern und dem Assad-Regime einen «dritten Weg» zu wählen. Was bedeutete, sich nicht aktiv an Kriegshandlungen zu beteiligen, sondern sich auf den Schutz der in den kurdischen Siedlungsgebieten Lebenden zu konzentrieren – ungeachtet ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit.
Der «dritte Weg», so Hasan, war notwendige Voraussetzung für die Befreiung Rojavas und die damit einhergehende Revolution. Zugleich war er eine Hoffnung für tausende vor dem Krieg Flüchtende, die in Rojava Schutz fanden. Hasan betonte die defensive Ausrichtung der Revolution in Rojava und das Festhalten am «dritten Weg» im innersyrischen Krieg. Gleichzeitig äußerte er die Hoffnung, dass die im Entstehen befindliche antipatriachale, multiethische und multireligiöse Demokratie in Rojava eine Vorbildfunktion für Syrien und die gesamte Region haben könne. Auf die Frage nach möglichen Partnern dafür antwortete er jedoch ausweichend.
Ein möglicher Partner außerhalb Rojavas sind die Yezid*innen in Shingal, für die Ali Atalan eine an das gesellschaftliche Modell in Rojava angelehnte Autonomie einforderte. Er bezeichnete dies als notwendige Erkenntnis aus den Erfahrungen, die die Yezid*innen machten, als ihre Siedlungen von den «IS»-Milizen angegriffen wurden. In dieser Situation war, laut Atalan, auf die (später von Deutschland mit Waffen ausgerüsteten) Peschmerga Masut Barzanis (Präsident der autonomen kurdischen Region im Nordirak) kein Verlass. Sie verließen ihre Stellungen, als die Terroristen angriffen.
Die Selbstverteidigungseinheiten der YPG und YPJ seien es stattdessen gewesen, die den bedrohten Yezid*innen aus Rojava zu Hilfe gekommen seien, und einen Korridor für die ins Sinjar-Gebirge geflohenen und dort belagerten Menschen freigekämpft hätten. Als Konsequenz aus dieser Erfahrung wurde in der Folge mit dem Aufbau einer eigenen militärischen Selbstverteidigung begonnen (YPS), und aufgrund des eingetretenen Vertrauensverlustes in die Verwaltung des autonomen kurdischen Gebietes im Nordirak sei eine demokratische Autonomie in Shingal das wichtigste politische Ziel der Yezid*innen. Konflikte mit Barzanis KDP sind auf dieser Basis absehbar.
Selbst wenn sich die militärische Situation in Rojava also entspannen sollte, und selbst, wenn die vielen Flüchtlinge erfolgreich über den Winter gebracht werden können: Auseinandersetzungen mit dem Regime in Syrien, wie zuletzt schon in Hesekê, aber auch eine unsichere Waffenbrüderschaft mit Barzanis Peschmerga, die jederzeit in einen politischen Konflikt münden kann, stellen neben den nach wie vor starken Milizen des «Islamischen Staates» gewaltige Herausforderungen für die kurdische Selbstverwaltung Rojavas dar.
Gerade erst hat Salih Muslim, Co-Vorsitzender der PYD um internationale Unterstützung gebeten. Denn nach der Niederlage des «IS» wollen Tausende Geflüchtete in ihre zu 80% zerstörte Heimatstadt Kobanê zurückkehren. Dort jedoch fehlt es aufgrund der von der Türkei geschlossenen Grenze selbst an Grundnahrungsmitteln. Er wiederholte deshalb seine dringende Forderung nach der Öffnung eines humanitären Korridors. Umso wichtiger, die Entwicklungen auch nach der Befreiung von Kobanê zu verfolgen und, wo immer möglich, Unterstützung zu organisieren.
Wir rufen für den Moment dazu auf, weiter für die geflüchteten Menschen in Shingal und Rojava zu spenden. Gelder können direkt auf das Konto von Heyva Sor a Kurdistanê eingezahlt werden, das regelmäßige Hilfslieferungen in die Camps organisiert und sich auch am Wideraufbau zerstörter medizinischer Infrastruktur in Kobanê beteiligt:
Heyva Sor a Kurdistanê e. V.
Kreissparkasse Köln
Konto. Nr: 40 10 481 – BLZ: 370 502 99
IBAN: DE 49 370 502 99 000 40 10 481
BIC/SWIFT: COKSDE33XXX
Bitte gebt Folgendes als Verwendungszweck an:
Stichwort: Winter in Kurdistan Wuppertal